Ich bin der langweiligste Mensch der Welt!

Es ist Sommer, es ist heiß, es ist Adoleszenz: Der Comic-Zeichner Lukas Jüliger erzählt in seinem herausragenden Debüt „Vakuum“ eine surreale Coming-Of-Age-Geschichte. (veröffentlicht auf zeit.de)

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Ihr Duft. Es ist ihr Duft, der alles überdeckt. Auch am nächsten Tag noch, während alle nur darüber reden, dass Ben Fimming eine Matratze in den Wald getragen und sich selbst umgebracht hat, nachdem er das beliebteste und hübscheste Mädchen der Schule betäubt, gefesselt und vergewaltigt hat, kann er nur an ihren Duft denken. Wie am Abend zuvor, als sie zusammen schweigend eine DVD geschaut hatten: Sie, das elfenhafte Mädchen aus der Stufe tiefer, und er, der schlaksige, unsichere Icherzähler aus „Vakuum“, dem fantastischen Comicdebüt von Lukas Jüliger.

Es ist der zarte Beginn einer Liebe am Ende einer Jugend. „Bald kamen die Ferien. Dann kamen die Prüfungen. Und dann waren wir hier fertig.“ Dann endet die Schulzeit und damit auch das Teenagerleben in der Kleinstadt, mit der Mutter im Einfamilienhaus und Sho, dem einen besten Freund. Ein Leben, in der Rumhängen und Zeit totschlagen wie bei so vielen Jugendlichen zu den wichtigsten Beschäftigungen gehören. „Ich bin der langweiligste Mensch der Welt!“, klagt die namenlose Hauptfigur ihrer Mutter. „Was erzähle ich ihr, was ich so mache? Rumliegen? Ich habe keine Hobbys.“

Doch das lange Warten der Adoleszenz, das Warten darauf, dass das Leben losgeht, dass endlich etwas passiert, wird jäh und heftig unterbrochen. „Wenn du dich irgendwann mal getraut hättest, mich anzusprechen – was hättest du gesagt?“, fragt also auf einmal dieses Mädchen mit den Mandelaugen, den schwarzerkaterfarbenen Haaren und dem Kleid über dem schlanken Körper. Am Abend treffen sie sich bei ihr, schauen auf dem Bett die DVD, neben ihnen die Staffelei des Mädchens und ein altes Puppentheater. Und dann – muss sie gehen, mitten in der Nacht. Wohin verrät sie nicht.

Die falschen Drogen genommen

Jetzt passiert etwas, jetzt passiert sogar sehr viel. Zu den Gedanken an den Duft des rätselhaften Mädchens und zu Ben Fimmings plötzlichen Tod kommt der sich zunehmend krasser äußernde Wahnsinn von Sho, der einige Monate zuvor die falschen Drogen genommen hatte. Es wird Sommer, es wird heiß, es stimmt irgendetwas nicht, und trotzdem machen alle immer weiter, wie in einem bedrängenden Traum, aus dem man nicht erwachen kann.

Das Mädchen – „Ihr Name klang nach Sommer“ – ist schon bald wieder da. Wieder taucht sie plötzlich auf, und wieder muss sie plötzlich weg. “Mädchenkram”, erklärt sie danach. „Es fühlte sich an, als hätte ich das Ende eines Films verpasst“, denkt der Erzähler. Doch irgendwann folgt er ihr heimlich und spätestens an dieser Stelle schlägt die trotz aller Absonderlichkeiten realistische Erzählung von Vakuum ins Übernatürliche um. Was aber kein Bruch ist, sondern nur eine logische Verdichtung der surrealen Atmosphäre.

Zwei Jahre hat Lukas Jüliger, 1988 geboren, an Vakuum gearbeitet, und dafür sein Studium an der HAW Hamburg unterbrochen, der Schule, aus der schon Arne Bellstorf, Sascha Hommer, Simon Schwartz und weitere wichtige Protagonisten der deutschen Indiecomic-Szene hervorgingen. Es hat sich gelohnt. Mit allen Mitteln schafft Jüliger eine dichte, aber auch zerbrechliche Stimmung. Sein Stil ist souverän, ein fließender und dennoch klarer Strich mit vielen Schraffuren, koloriert in stark entsättigten Tönen, blau, hellgrün, ocker, beige, hellbraun, alles fast grau.

Raum für Seitenblicke

Dazu kommen die Details, die kleinen skurrilen Gegenstände im Hintergrund, der Raum für Blicke nach links und rechts. Die Protagonisten sind sich trotz der ungewöhnlichen Story glaubhaft, weil Jüliger sie ernst nimmt – allein die Mutter des Hauptcharakters dürfte zu den normalsten und vernünftigsten Elternfiguren zählen, die man in Jugendgeschichten finden kann.

130221_cover_vakuumAuch die Dialoge sitzen. „Glaubst du, er hat sie betrachtet?“, fragt das Mädchen etwa, sie meint den Vater der vergewaltigten Schulschönheit, der seine Tochter, gefesselt und mit verbundenen Augen, im eigenen Haus gefunden hatte. „Stand er einfach eine Weile da und hat angesehen, wie so vor ihm lag? Seine perfekte, schöne achtzehnjährige Tochter…“ – „Sie hätte ihn irgendwann gerochen. Aftershave.“ – „Wow! Ich bin beeindruckt.“ – „Was? Wovon?“ – „Von deinem Weltwissen. Männer riechen nach Aftershave und Frauen nach Blumen.“

Coming-of-Age-Geschichten wird es immer geben. Aber selten hat eine so deutlich gezeigt, was in diesem Genre noch alles möglich ist wie diese düsterzarte Außenseiterliebesgeschichte.

Lukas Jüliger: Vakuum; Reprodukt, Berlin 2013; 112 S., 20 €