Die Farbe des Pols

War der erste Mensch am Nordpol ein Schwarzer? Simon Schwartz porträtiert in seiner Graphic Novel „Packeis“ den vergessenen Polarreisenden Matthew Henson. (veröffentlicht auf fluter.de).

Wer war der erste Mensch am Südpol? Richtig: Roald Amundsen. War ja 2011 gerade erst das 100-jährige Jubiläum. Und wer war der erste Mensch am Nordpol? Das ist höchst strittig – offiziell heißt es: Robert E. Peary im Jahr 1909. Doch Pearys Aufzeichnungen enthalten einige Ungereimtheiten, und die seines Konkurrenten Frederick Cook erst recht. Ein Name wird in diesem Zusammenhang hingegen nie genannt: Matthew Henson.

Dabei könnte der sogar noch einige Stunden vor seinem Expeditionsleiter Peary am Pol gewesen sein. Das Problem: Henson war Afroamerikaner. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Kolonialismus die Welt prägte und die Sklavenbefreiung in den USA erst wenige Jahrzehnte zurück lag, stand schlichtweg außer Frage, dass ein Schwarzer den Nordpol erobern könnte. Schwarze traten im öffentlichen Leben praktisch nicht auf.

In seiner Graphic Novel „Packeis“ erzählt Simon Schwartz Hensons Geschichte in zahlreichen Rückblenden. Es ist eine Geschichte der Diskriminierung und der Ungerechtigkeit. Schwartz zeigt, wie Henson durch Rassismus früh zum Vollwaisen wird und wie er beginnt, die See zu bereisen. Wie Henson 1887 in Nicaragua erstmals Robert E. Peary auf einer Expedition begleitet und später auf allen seinen Polarentdeckungsreisen dabei ist. Wie Henson sich durch seine schnelle Auffassungsgabe, sein handwerkliches Geschick und seine Loyalität immer wieder unersetzlich macht – obwohl er von Peary in erster Linie als nützliches Werkzeug gesehen wird, um noch mehr Forscherruhm zu erlangen.

Die Welt um 1900

Aber auch die Rückschläge und Finanzakquisen Pearys sind ein Thema. Überhaupt wird ein umfassendes Bild der Zeit um 1900 gezeichnet, als Naturwissenschaftler die Vermessung der Welt vorantrieben und die halbe westliche Welt gebannt das Rennen um die Pole verfolgte. Zugleich liegt ein besonderer Fokus auf der Beziehung Matthew Hensons zu den Inuit, deren Sprache er schnell lernte: Für sie ist er Mahri Paluk, ein guter Dämon, der den Teufel besiegte.

Simon Schwartz, geboren 1982, scheint eine Vorliebe für historische Stoffe zu entwickeln. „drüben!“, seine Diplomarbeit an der Comiczeichner-Talentschmiede HAW Hamburg, handelt von der Geschichte seiner Eltern, die in der Endphase der DDR einen Ausreiseantrag stellten.

In seinem aktuellen Werk hat Schwartz seinen Stil auf atemberaubende Weise weiterentwickelt. Zwar sehen die Figuren mit ihren großen Augen und expressionistisch-vereinfachten Gesichtszügen weiterhin aus wie eine unbestimmte Mischung aus mittelamerikanischer Wandmalerei und den Charakteren alter Mosaik-Comics – wie schon in seinem Debüt –, doch ist ihnen jede Unbeholfenheit abhanden gekommen.

Sog der Bilder

 

Mit seinem markantem Strich und einer klaren Farbgebung zieht Schwartz seine Leser und Leserinnen mit jeder Seite tiefer in einen Sog der Bilder. Er schafft komplexe visuelle Überleitungen zwischen den verschiedenen Zeitebenen, lässt die Hintergründe zwischen realistischen Darstellungen und ausdrucksstarken Mustern changieren, verschränkt die mythologische Darstellung Hensons als Inuit-Geist mit der modernen Welt der USA.

Farblich ist „Packeis“ ausschließlich in flächigen Schwarz-, Weiß-, Grau- und Hellblautönen gehalten. Und so hart wie diese Kontraste sind auch Gut und Böse gezeichnet. Auf der einen Seite Robert A. Peary, der mit jeder Polarreise hinterlistiger, habgieriger, hakennasiger wird und im Schlussakkord alle Widersacher beiseite räumt. Auf der anderen Seite der grundgütige Henson, der sich klug an die Kultur der Inuit anpasst und Peary gegenüber doch stets loyal bleibt. Davon abgesehen gelingt es Schwartz aber, nur in geringen Dosen zu moralisieren.

Packeis_CoverTrotz der umfangreichen Recherche nimmt er sich dabei einige künstlerische Freiheiten heraus – etwa indem er die beiden Ehefrauen Hensons zu einer vermengt. Eine ausführliche Zeittafel mit Originalfotografien am Buchende verleiht dem umwerfenden Bilderrausch eine finale Erdung. So ist „Packeis“ ein rundum gelungenes Werk.

Simon Schwartz: Packeis (Avant-Verlag 2012, 176 S., 19.95 €)