Ein Genie auf dem Weg nach unten

David Mazzucchellis Graphic-Novel „Asterios Polyp“ ist ein fein konstruiertes Comic-Gebilde. Manchmal erschlägt einen aber seine Symbolik. (veröffentlicht auf zeit.de)

Ein 1,1-Kilo-Klotz ist es. Umhüllt von einem extravagant absichtlich zu kurzen Schutzumschlag, das Hardcover beidseitig geprägt. Es geht noch weiter: Wie das amerikanische Original ist auch die deutsche Ausgabe – eine Bedingung des Autors David Mazzucchelli – auf japanischem Recyclingpapier in einer speziellen chinesischen Druckerei produziert worden und zwar nicht wie sonst üblich im Vierfarb-Druck, sondern mit gleich zehn Sonderfarben.

Nein, dieses – natürlich! – mit mehreren Eisner- und Harvey-Awards und dem Spezialpreis der Jury vom Comicfestival Angoulême ausgezeichnete Buch ist nicht irgendeine dahergelaufene Wald-und-Wiesen-Graphic-Novel. Und daher trägt der titelgebende Held auch keinen Wald-und-Wiesen-Namen wie David Boring oder Jimmy Corrigan, sondern heißt Asterios Polyp.

So fein wie der Name sieht Herr Asterios denn auch aus: die römische Nase, die schmalen Augen, die dezenten Falten – das Profil eines außergewöhnlich begabten Menschen, Universitätsprofessor, um genau zu sein, Sohn griechisch-italienischer Einwanderer. Ein Architekt von Weltrang, ein Schnellleser und charmant parlierender Tausendsassa, ein grandioser Koch, der in einer New Yorker Wohnung voller rechtwinklig angeordneter Designklassiker lebt und eine japanische Künstlerin mit Puppengesicht geheiratet hat.

Selbstherrlicher Versager

Doch, nein, so einfach ist das natürlich gar nicht. Die Ehe ist längst zerbrochen, denn das Genie ist auch und vor allem: selbstherrlich, ins-Wort-fallend und von sich und seiner Intelligenz so eingenommen, dass Asterios’ Frau Hana, japanisch für Blume, sich kaum entfalten kann neben seiner rational-kritischen Überheblichkeit und sich am Ende gar einer Witzfigur von Theaterregisseur in die Arme wirft, nur um ein wenig Anerkennung zu erfahren. Ganz nebenbei: Von Asterios Polyps Entwürfen wurde noch nie auch nur ein Treppenhaus gebaut.

Zeit für einen Neuanfang, und praktischerweise brennt exakt an Polyps 50. Geburtstag dessen Wohnung nieder und damit auch sein gesamtes Leben – das er seit Jahrzehnten auf Videokassetten aufgezeichnet hatte (ja, auch den Sex). Asterios macht sich also von seinem letzten Bargeld auf in eine namenlose Kleinstadt und heuert als Automechaniker an. Parallel zu Polyps Erlebnissen in der Provinz wird in Rückblenden der Aufstieg und Fall seiner Ehe nachvollzogen. Und auf einer weiteren Handlungsebene treibt ein Ich-Erzähler, der bei der Geburt verstorbene Zwillingsbruder Ignazio Polyp, die (De-)konstruktion von Asterios’ Charakter noch weiter voran, mittels Traumsequenzen und Ausflügen in die Geistesgeschichte der letzten 2.500 Jahre.

Wobei letztere auch in den übrigen Teilen des Bands vollzogen werden. Zehn Jahre arbeitete David Mazzucchelli an Asterios Polyp, herausgekommen ist ein entsprechend feinkonstruiertes und hochsymbolisches Comic-Gebilde. Dualismen, philosophische Erwägungen zur individuell verschiedenen Wahrnehmung der Welt werden erwähnt, genau wie atonale Kompositionen, der stete Abriss und Wiederaufbau von Shinto-Schreinen, der Einfluss der Mondphasen auf die Natur, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Meteorit auf der Erde einschlägt. Oder die Frage, ob Franz von Assisi jemals eine Mücke erschlagen hätte.

Alles hat hier was zu bedeuten

Da hat jeder Charakter eine eigene Sprechblasen-Handschrift, da haben Asterios und Hana ihre eigenen Zeichenstile, er blau-technisch, sie rot-schraffiert, die in glücklichen Zeiten in bunten Bildern verschmelzen, in Momenten der Entfremdung aber wieder zu harten Kontrasten werden. Farben, Formen, Ideen, Dinge – alles hat hier irgendwas zu sagen. Wer früher im Deutschunterricht Spaß an der Textexegese hatte, kann sich hier mal so richtig austoben.

Doch auch Interpretationsmuffel können sich in Mazzucchellis Werk verlieren. Mit klarem Strich und pointierten Dialogen führt er in diversen Episoden durch Asterios Polyps Vergangenheit, Gegenwart und Innenleben. Rückblenden und Metaebenen werden elegant ein- und ausgeklinkt, die Charaktere sind vielschichtig und bizarr, die Handlung bleibt immer im Fluss, genau wie die meist locker auf die Seiten geworfenen Panels, die Mazzucchelli mit gehörigem Variantenreichtum arrangiert.

Bis zum Ende von Asterios Polyps Läuterungstour in die amerikanische Provinz, wo die Konfrontation mit dem einfachen Leben schließlich einen demütigeren Menschen aus ihm gemacht hat. Was, angesichts all der zuvor aufgefahrenen Meta- und Parallebenen, in seiner schlichten Moral dann doch etwas wenig ist. Aber macht nichts: Dann fangen wir einfach noch mal von vorne an. Es gibt so viel in diesem Comic zu entdecken.

David Mazzucchelli: Asterios Polyp (Eichborn, 2011, 334 S., 29,95 €)