Ein Fassbinder plus ein halbgarer Nabokov

„David Boring“ gilt als einer der besten Graphic Novels der Comicgeschichte. Nun ist die Coming-of-Age-Geschichte von Daniel Clowes auf Deutsch erschienen. (veröffentlicht auf zeit.de)

David Boring ist ein blasser, junger Mann mit Seitenscheitel, Segelohren und dürren Armen. Vor einem Jahr ist er aus der Provinz in die Stadt gezogen, um seiner dominanten Mutter zu entfliehen. Hier lebt Boring mit seiner lesbischen College-Freundin Dot zusammen, jobbt als Nachtwächter und geht, auch wenn man ihm das erstmal nicht direkt zutraut, mit vielen Frauen ins Bett, bevorzugt solche mit drallen Hintern. Diese Obsession, die Suche nach der perfekten Frau mit dem perfekten Po, ist Borings einziger Antrieb – neben der Frage, was sein Vater, ein Comiczeichner, der die Familie früh verließ, für ein Mensch war.

Der Besuch von Borings Jugendfreund Whitey in der Stadt löst eine Kaskade von Ereignissen aus und macht Boring, der unmotiviert den Plan verfolgt, Drehbuchautor zu werden, zur Hauptfigur seines persönlichen Film Noirs: Kaum angekommen, wird Whitey erschossen. Täter und Motiv bleiben im Dunkeln. Auf dem Weg zu Whiteys Beerdigung trifft Boring in einem Flughafentaxi Wanda, blond, Dutt, Literaturstudentin, die Fleischwerdung seiner Traumfrau, die er erfolgreich zu diversen Dates überredet, bis sie ihn urplötzlich verlässt. Schließlich wird Boring in einer Nebelnacht seinerseits von einem Unbekannten per Kopfschuss niedergestreckt.

Zur Regeneration wird er auf die winzige Insel Hulligan’s Wharf gebracht, ein Familienrefugium. Isoliert von der Außenwelt vollzieht sich im Mittelakt der Geschichte ein Kammerspiel zwischen dem stark angeschlagenen Boring, seiner Mutter, deren Cousine, die mit Tochter und Schwiegersohn auf der Insel Urlaub macht, Dot und dem irischstämmigen Hausverwalter. Nachdem ein entfernter Verwandter auf Hulligan’s Wharf eintrifft und die Meldung einer verheerenden terroristischen Biowaffen-Anschlagswelle mitbringt, schwebt über allem zusätzlich eine diffuse Apokalypseahnung. Die Stimmung kippt zunehmend, bald findet sich die erste Leiche im Meer. Weitere Tote und Verletzte, Beziehungen und Trennungen, unterdrückte Obsessionen, Rätsel und Verstrickungen folgen.

Es ist ein seltsam neben der Spur liegendes Amerika der Außenseiter und Beinahefreaks, der dysfunktionalen Beziehungen, der schmuddeligen Diner und Nebenstraßen, das der Comiczeichner Daniel Clowes seit rund 30 Jahren mit bestechend klarem Strich einfängt. Der Berliner Independent-Verlag Reprodukt bringt nun eines seiner wichtigsten Werke endlich nach Deutschland. Die drei Akte der englischen Originalausgabe veröffentlichte Clowes dabei schon zwischen 1998 und 2000, das Time Magazine setzte sie 2005 auf seine Liste der zehn bedeutendsten englischsprachigen Graphic Novels.

Geist der Generation X

Man spürt das Alter: Die Welt von Boring und Dot atmet noch den Geist der Generation X, der gelangweilten Perspektivlosigkeit von Slackern, die die meiste Zeit rumhängen und zynische Kommentare abgeben. Noch prototypischer fing Clowes diese Lakonie in seinem großartigen, dank einer Verfilmung wohl bekanntesten Comic Ghost World ein (ebenfalls bei Reprodukt erschienen), das vom letzten gemeinsamen Sommer zweier sich entfremdender Highschoolfreundinnen in einer amerikanischen Kleinstadt erzählt.

Dass Clowes in David Boring diese spröde Stimmung aufnimmt, aber eine wilde Kriminalgeschichte drumherum konstruiert, ist irritierend. Boring wird von Albträumen geplagt, und immer wieder puzzelt und interpretiert er an der einzigen Hinterlassenschaft des Vaters, den Versatzstücken eines Superheldenheftes aus den sechziger Jahren herum, die als grobgerasterte Farbtupfer direkt in die Panelstruktur von David Boring zwischengeschaltet werden.

„It’s like Fassbinder meets half-baked Nabokov on Gilligan’s Island“, hat Clowes selbst über seinen Comic gesagt. Seine schwarz-weiß gehaltene Mixtur aus Coming-of-Age-Geschichte, Film Noir, Kriminal-Pulp, Generation X, Lynch und Freud verdichtet sich zu einem zunehmend erdrückenden, surrealen Strudel, zäh und ausweglos wie ein Bad in Sirup. Auf den in strenger Dreizeiligkeit auf den Seiten montierten Zeichnungen stehen, sitzen und handeln die Protagonisten wie eingefroren, selbst in Momenten größter Dramatik bleiben sie seltsam unbeteiligt und schicksalsergeben.

Und mittendrin ist Boring, auf der Suche nach Lösungen, seinem Vater, sich selbst, aber vor allem: seiner Idealfrau.

Daniel Clowes: David Boring (Reprodukt, Berlin 2010; 128 S., 20 €)