„Sie verstehen es nicht“
Das Strapazin erkundet die Ränder der Comic-Kultur. Auch die 100. Ausgabe des einflussreichen Schweizer Magazins kennt nur eine Richtung: nach vorne. (aus der taz vom 30. Oktober 2010)Ein Musical über einen lebensmüden Flugzeugpiloten. Die Nachmittagsgespräche zweier flaumbärtiger Halbstarker. Eine Serie von Hundehüttenstillleben. Eine Frau, die vor einem Date in der Badewanne masturbiert. Ein Junge, der auf einem fremden Planeten festhängt. Ein komplexes Schaubild des französischen Präsidentenpalastes voller knopfäugiger Wesen – es sind die Ränder der Comickultur, die das Schweizer Strapazin seit 26 Jahren und in mittlerweile 100 Ausgaben auslotet. Erzählstrukturen werden aufgebrochen oder vernachlässigt, oft verzichten die nur wenige Seiten langen Kurzgeschichten auf Handlung und Dialoge, zeigen lakonische Alltags- und Traumerlebnisse, kurze, wie aus dem Zusammenhang gerissene Momentaufnahmen. Dazu kommt eine Vielfalt markanter Stile, zumeist in Schwarz-Weiß: von Scherenschnitten und feinstschraffierten Flächen bis zu Tusche- und Bleistiftzeichnungen, von hochnaturalistischen bis zu abstrakten Charakteren, von kleinteiligen Panelstrukturen bis zu ganzseitigen Illustrationen. Trotz einer Auflage von bloß 3.000 Exemplaren ist das vierteljährlich erscheinende Strapazin (Verkaufspreis: 6 Euro) das aktuell wohl einflussreichste Comic-Magazin im deutschsprachigen Raum. „Es ist ein Wegbereiter für junge Zeichner“, sagt Dirk Rehm vom Berliner Comicverlag Reprodukt. „Strapazin bietet der deutschsprachigen Independent-Szene ein Forum und hat sie lebendig gehalten.“ Zeichner wie Thomas Ott, Ralf König oder Atak veröffentlichten hier vor ihrem Durchbruch. „Eine wichtige Motivation für uns war immer, dass Comics als neunte Kunst anerkannt werden. Daran hatten wir schon einen Anteil“, sagt David Basler, 57, Chef des Schweizer Verlags Edition Moderne und seit der zweiten Strapazin-Ausgabe mit im Team. Zusammengehalten werden die Kurzgeschichten von Oberthemen wie „Sex“, „Vergessene Orte“, „Comics ohne Protagonisten“, „Gebrauchsanweisungen“, „La Divina Commedia“, „Comics aus Hamburg“ oder „Kaffeehaus“. Die 100. Ausgabe nimmt chinesische Zeichner in den Fokus. Daneben ist nicht viel: ein knapper Rezensionsteil, eine Kolumne und nur ab und zu ein Sekundartext zum Thema. Bei alldem arbeitet das Strapazin leidlich wirtschaftlich. „Das ist ein Wunder. Es ist zwar bescheiden, aber für alles gibt es Honorare“, sagt David Basler. Was maßgeblich am einzigartigen Werbekonzept liegt: Alle Anzeigen werden von durch das Strapazin ausgesuchten Illustratoren gezeichnet und haben das gleiche Einheits-Quadratformat – so ist sichergestellt, dass sich kein Design-Fremdkörper ins Heft verirrt. Die zwölf Motive des Backcovers übernimmt ein Zeichner komplett. Als Gimmick bekommen die Kunden die Anzeige als Aufkleber in 500er-Auflage für Eigenwerbung, womit auch der vergleichsweise stolze Preis von 280 Euro pro Anzeige gerechtfertigt ist. Seinen Ursprung hat das Strapazin in den linksalternativen Schweizer Jugendprotesten der frühen 80er Jahre: „Die Zürcher Bewegung war für die Älteren von uns das Schlüsselerlebnis. Sie war ja weniger ein politischer Kampf, es ging um kulturelle Freiräume“, sagt David Basler. „Comic gehörte damals zu einer Underground-Kultur wie Punk.“ Aus dem Umfeld von alternativen Comicmagazinen wie Stilett und Eisbrecher entstand schließlich die erste Strapazin-Ausgabe, damals noch getragen von den Verlagsstrukturen des Münchner Blatts, der ersten alternativen Stadtzeitung in Deutschland. Nach dessen Pleite erschien man in Zürich – im Eigenverlag, bis heute. Ohnehin waren die Jahre um 1980 eine Aufbruchszeit der deutschsprachigen Comicszene: 1981 begann der Großverlag Carlsen damit, Comics auch im Buchhandel zu platzieren, im gleichen Jahr gründete sich der Interessenverband Comic, der dann 1984 erstmals den Comicsalon Erlangen, heute das wichtigste Treffen im deutschsprachigen Raum, veranstaltete. Parallel wurden damals zahlreiche Fanzines gegründet, von denen neben dem Strapazin heute nur noch die Sprechblase und die Reddition existieren – die in Anmutung und Publikum mit dem Strapazin außer dem vagen Oberbegriff „Comicmagazin“ ziemlich wenig zu tun haben. Denn bei aller Relevanz: das Strapazin repräsentiert bei weitem nicht den gesamten deutschen Comic-Kosmos. Die Anhänger der frankobelgischen Klassiker werden genauso wenig erreicht wie die Sammler von US-Superheldenheften oder die jugendlichen Mangafans. Seine eigene Zielgruppe sieht Basler als eher artfremd: „Der Strapazin-Leser ist an und für sich nicht so der Comicleser.“ Dafür ist er gern auch selber kreativ: „Kunststudenten, Architekten, Designer – so stelle ich mir das zumindest vor“, sagt Basler. Außerdem sei fast die Hälfte der Abonnenten weiblich, für ein Comicmagazin ein extrem hoher Wert. In manchen Ecken der Comicszene sei daher das Strapazin nach Einschätzung Dirk Rehms auch „eher verpönt. Das Vorurteil lautet: Avantgarde, unlesbar, Kunstcomics“. Auch David Basler sagt: „Einige finden es scheiße. Aber früher war es viel schlimmer. Fans und Sammler sind ein sehr kleiner Kosmos, das war ein wenig wie die K-Gruppen in den 70ern.“ Heute seien die Leute viel entspannter: „Sie verstehen es nicht, aber sie sehen ein, dass es so was auch gibt.“ Die Independent-InternationaleEingebunden ist das Strapazin stattdessen eher in eine international agierende Independent-Szene: Das große Vorbild war anfangs das US-Magazin Raw, das unter anderem von Art Spiegelman („Maus“) herausgegeben wurde. Heute tauscht man sich, etwa beim Comic-Festival in Angoulême, mit dem japanischen AX Magazine, dem französischen Lapin, den US-Verlagen Top Shelf und Fantagraphics Books oder Drawn and Quarterly aus Kanada aus. Für das Jubiläumsheft war eine neunköpfige Strapazin-Delegation zu Besuch in Nanjing und besuchte die Macher von Special Comix – parallel zur Ausgabe 100 erschien in China ein Strapazin-Special mit Comics von Schweizer Autoren. Im deutschsprachigen Raum zählen die Verlage Reprodukt, Avant und Edition Moderne zum Freundeskreis. Zudem hat sich inzwischen die Erbengeneration formiert, etwa in Form von zwei jährlich erscheinenden Anthologien, die die Bildsprache des Strapazins aufgreifen und weiterdenken: das von Arne Bellstorf und Sascha Hommer herausgegebene Orang und das von einem Frauenkollektiv um Claire Lenkova gestaltete und Zeichnerinnen vorbehaltene Spring. Denn obwohl die Indieszene in Deutschland einen im internationalen Vergleich recht großen Teil vom Comic-Kuchen ausmacht – letztlich ist es alles doch sehr familiär. Auch beim Strapazin: das Kernteam des Anfangsjahre ist, wenn auch ergänzt durch einige jüngere Leute, bis heute mit dabei. „Die soziale Komponente ist ein Grund, warum es Strapazin noch gibt: Es ist unser gemeinsames Ding“, sagt Basler. „Wenn man zusammen was macht, dann hat man auch noch zusammen zu tun.“ Entsprechend flach sind die Hierarchien: Die Hefte werden im Rotationsprinzip von wechselnden Teams gestaltet, in der Regel von zwei Redakteuren und einem der fünf Art-Direktoren. Zusätzlich werden etwa alle zwei Jahre Gast-Redaktionen beauftragt. Jedes Jahr im Herbst trifft sich der rund 15-köpfige Redaktions- und Herausgeberkreis um die Themen der kommenden Ausgaben zu bestimmen – gerade erst am vergangenen Wochenende wurden die vier Themen für 2011 festgezurrt: „Isolated Houses“, „Komplizen“, „Kontaktanzeigen“ und „Essen“. Zuvor erscheint aber Ende November noch die Ausgabe 101 zum Thema „Die Stadt der Zukunft“. Die Blattmacher haben dabei weitestgehend freie Hand: Wie Kuratoren betreuen sie ihr Heft und entscheiden, ob sie zum Thema lieber passende Kurzgeschichten aus der ganzen Comicwelt zusammentragen oder gezielt Aufträge vergeben. Die einzige Regel: Die Geschichten dürfen noch nicht im deutschsprachigen Raum erschienen sein. „Das Strapazin ist eine Art Wundertüte. Bei uns gibt es keine Hausautoren. Es gibt auch keine Ausgabe ,Comics aus den 30ern’“, sagt David Basler, „wir schauen immer vorwärts.“ |