Aufstand der Goldfarmer

In Multiplayer-Onlinespielen ist längst eine Parallelökonomie entstanden: Jugendliche aus Asien erkämpfen Gold und Gegenstände. In Cory Doctorows Sci-Fi-Roman “For the Win” treten sie in den Streik. (veröffentlicht auf fluter.de)

Im Mai 2011 packte ein ehemaliger Häftling des chinesischen Arbeitslagers Jixi aus. Die Nachricht ging um die Welt: Er und sein Mitgefangenen waren gezwungen worden, im Multiplayer-Online-Rollenspiel “World of Warcraft” in Zwölfstundenschichten Gegenstände und Gold zu erkämpfen. Mit dem Beutegut besserten sich dann die Wärter ihr Gehalt auf. Es war kein Einzelfall.

Goldfarming heißt das Phänomen. Virtuelle Güter, etwa ein besonders mächtiges Schwert, werden von meist asiatischen Gamern erspielt und an wohlhabende US-Amerikaner und Europäer veräußert, die selber wenig Zeit haben, aber schnell ein hohes Level erreichen wollen. Obwohl die Spiele-Hersteller versuchen, solche Geschäfte zu unterdrücken, kann das eingenommene Spielgold über dubiose Kanäle in echtes Geld umgetauscht werden.

Mehrere tausend dieser “Goldfarmen” mit miesen Arbeitsbedingungen soll es allein in China geben. Das gesamte Bruttosozialprodukt dieser virtuellen Welten übersteigt längst das mancher realer Staaten.

Eine gute Vorlage für Science-Fiction-Autoren: Neal Stephenson (“Diamond Age”, “Snow Crash”) hat mit “Reamde” jüngst einen Roman vorgelegt, der Goldfarming zum Thema hat. Ebenso Cory Doctorow mit seinem Jugendroman “For the Win”, der gerade auf Deutsch erschienen und eher gesellschaftliche als wissenschaftliche Fiktion ist. Doctorow, der als Teil von boingboing.net in den USA auch ein äußerst populärer Blogger ist und als Digital-Rights-Aktivist für eine Liberalisierung des Urheberrechts kämpft, bietet die englische Fassung von “For the Win”, wie alle seine Bücher, auch kostenlos zum Download an – unter einer Creative-Commons-Lizenz, die eine Verbreitung unter bestimmten Bedingungen erlaubt und fördert.

Schlägertruppen jagen Goldfarmer

In “For the Win” beschreibt er eine sehr nahe Zukunft, in der die Bedeutung von Massen-Onlinespielen noch größer ist als heute. Zu den zahlreichen Figuren in seinem Roman zählen die Goldfarmer Matthew und Lu aus dem chinesischen Shenzhen, die sich von ihrem Boss Mr. Wing abgekoppelt haben, um ihr eigenes Business zu gründen, und nun von Schlägertruppen verfolgt werden. Außerdem sind da die indischen Teenager Yasmin und Mala, fast unschlagbar in digitalen Kriegsspielen, die von einem Fremden angeheuert werden, um andere Goldfarmer aufzumischen – quasi als Fußvolk in einem virtuellen Mafiakrieg.

Da ist Wei-Dong, ein reiches kalifornisches High-School-Kid, der von zu Hause abhaut, um mit seinen chinesischen Gamer-Freunden zocken zu können. Und da ist Connor Prikkel, ein versifftes Wirtschaftsgenie, der es als “Chief Economist” in die Firmenzentrale von Coca-Cola Games geschafft hat und sich dort um die wirtschaftliche Seite der Computerspiele kümmert.

Im Zentrum der weit aufgefächerten Geschichte steht die Gründung einer Gamer-Gewerkschaft, die Schwester Nor, eine Aktivistin aus Malaysia, vorantreibt. Diese Gewerkschaft soll Schluss machen mit den unwürdigen Arbeitsbedingungen, und sie soll die Spieler, die verstreut in allen Teilen der Welt leben, vereinen. Doch was als idealistisches und leicht naives Aufbäumen der Unterdrückten beginnt, wird spätestens dann bitterer Ernst, als böse Unterweltbosse und die chinesische Polizei das Leben der Online-Gewerkschafter bedrohen – ihr echtes Leben, nicht das ihrer Avatare.

Angestrengt-blumiger Pathos

Gerechtigkeit, Moral, der Kampf um Unabhängigkeit von Elternhaus und Bossen: Das sind große emotionale Themen. Und das ist auch zugleich das größte Problem dieses Buches. Denn Doctorow schildert die Gefühlswelten seiner Protagonisten ausführlich und oft mit einem angestrengt-blumigen Pathos.

In schwachen Abschnitten klingt jeder vierte Satz etwa so: “Ashok schaute verwundet auf Malas grimmiges Gesicht, sie war einen Kopf kleiner als er, aber manchmal kam sie ihm wie ein Riese vor.” Auch wird ständig “befreit” gelacht, und immer wieder wissen die Figuren, dass sie “diesen Kampf einfach nicht verlieren können”. Ein bisschen mehr ballastbefreiendes Lektorat hätte dem 600-Seiten-Buch gut getan.

Abgesehen von diesen stilistischen Schwächen verknüpft Doctorow jedoch fundiertes und gut erklärtes Hintergrundwissen mit einer ordentlichen Story und trifft dabei tatsächlich den Nerv der Zeit. Goldfarming und andere Verwebungen von virtuellen und “realen” Welten und Ökonomien werden unser kommendes Leben prägen. Auch der Fokus auf Asien passt. Die Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten des 21. Jahrhunderts werden nicht mehr in den USA erzählt, sondern in den Fabrikstädten, Slums und Sonderwirtschaftszonen von China, Indien und den Tigerstaaten.

Cory Doctorow: For the Win (Heyne 2011, 640 S., 16.99 €)