Der Ball ist klein

Kein bierseliges Kneipenhobby: Die deutschen Tischfußballer wollen als Sportler ernst genommen werden. In Hamburg kämpfen sie zurzeit um den WM-Titel. (aus der taz vom 26. Mai 2006)

Auf einem versteckten Parkplatz in einem Oldenburger Gewerbegebiet, gleich neben einem Fitnessstudio, hat sich der KC Olympic Oldenburg seinen eigenen kleinen Trainingsraum eingerichtet. Von der tiefen Decke hängen Neonlampen, aus den Boxen ertönt harte Gitarrenmusik. In einer Ecke stehen Pokale, an einer Wand stapeln sich Getränkekisten, es gibt eine Sitzecke und auch eine kleine Theke.

Dazwischen sind sechs Kickertische verteilt, alles verschiedene Modelle. An einem steht Tim Ludwig und trainiert. Allein. Er postiert die Abwehrspieler auf der Gegenseite vor dem Tor und klemmt den Ball unter dem eigenen Mittelstürmer ein. Dann befördert er den Ball mit einer fließenden Bewegung ins Tor. Das macht er dann noch mal. Und noch mal. Und noch fünfzigmal. Und danach übt Ludwig eine andere Schuss- oder Passvariante, im Schnitt zwei Stunden am Tag, jeden Tag in der Woche.

Tim Ludwig, 26, macht eine Ausbildung zum Werbekaufmann und ist, sagt Philipp Must, der Pressesprecher des Deutschen Tischfußballbundes (DTFB), „das größte deutsche Tischfußball-Talent“. Ludwig war im vergangenen Jahr Erster der deutschen Rangliste und ist bei der seit gestern laufenden Tischfußball-WM Mitglied der Nationalmannschaft. Sein monoton anmutendes Trainingsprogramm ist notwendig, wenn er in der Weltspitze mitspielen will: „Eingeübte Bewegungsabläufe, bis sie zu 100 Prozent kommen – das ist das Werkzeug, das man beim Spielen braucht“, sagt er: „Wenn man nachts um vier geweckt und an den Tisch gestellt wird, muss es im Prinzip sofort gehen.“

Paris statt Disco

Angefangen hat das alles vor etwa zehn Jahren: „Wir haben in der Freistunde immer in einem Café gekickert. Später auch in der Disco.“ Nach einiger Zeit ist Ludwig auf die Nordwest-Liga aufmerksam geworden und zum Treffpunkt der Oldenburger Mannschaft gegangen. „Da wurde ich erst mal abgeschossen“, sagt er. Aber das war genau die Motivation: „Es gibt immer welche, die besser sind. Und man trainiert, um die zu schlagen. Bloß, dass man irgendwann nicht mehr in die Disco geht, sondern nach Paris zum Turnier fährt.“

Inzwischen kickert Ludwig nicht mehr in Discos und Kneipen. „Wenn ich gefragt werde, sage ich: ,In meiner Freizeit kicker ich nicht’, auch wenn das natürlich seltsam rüberkommt.“ Ludwig hat sein komplettes Sozialleben dem Kickern untergeordnet: „Arbeiten, trainieren, schlafen. Und mindestens jedes zweite Wochenende ein Turnier – ich lebe Kicker“, sagt er. An dieser Belastung ist schließlich sogar seine langjährige Beziehung zerbrochen.

Vor der WM nahm Ludwig an jedem Wochenende an Turnieren teil, Budapest, Göttingen, Paris, Bratislava und Maastricht standen nacheinander auf dem Programm. Die Wettkämpfe sind der Treffpunkt für die Kickerszene, deren harter Kern in Deutschland etwa fünfzig bis hundert Personen umfasst. Mit Kneipenkickern hat das wenig zu tun. Die Turniere finden tagsüber statt, in Sporthallen oder Veranstaltungszentren, wo bis zu hundert Tische aufgestellt werden. Oft ist Sportkleidung vorgeschrieben. Geraucht oder getrunken wird während der Spiele nicht.

Schüsse mit 50 km/h

Auch die Spielweise ist eine andere. Gezielt wird der Ball von Mittelfeld- auf die Sturmreihe gepasst, dort gestoppt und in Schussposition gebracht. Nun zeigt sich, ob das Training etwas gebracht hat: „Pin Shot“ oder „Snake Shot“ heißen die Spezialtechniken der geübten Spieler, Ludwigs Favorit ist der „Pull Shot“. Optimal ausgeführt erreichen die Schüsse bis zu 50 Stundenkilometer und sind auch für den besten Abwehrspieler nicht zu halten, da er stets nur reagieren kann – „deshalb ist ein gutes Mittelfeldspiel ungeheuer wichtig“, sagt Ludwig.

Dabei gibt es zahlreiche Regeln: Die Höchstzeit, die der Ball an einer Stange bleiben darf, ist vorgeschrieben. Ruhende Bälle dürfen nicht zu einer anderen Spielerreihe gepasst werden. Sprechen ist während der Ballwechsel nicht erlaubt. Und wie in vielen andere Sportarten gibt es auch beim Kickern spezielle Ausrüstungsgegenstände: Silikonspray lässt die Stangen besser laufen. Um die Schüsse präziser auszuführen, werden die Stangengriffe mit Bändern umwickelt oder kondomartige Griffgummis übergezogen – das gibt mehr Grip. Zusätzlich verwenden viele Spieler Golfhandschuhe, für die Entwicklung von Kickerhandschuhen ist die Zielgruppe allerdings noch nicht groß genug.

Immerhin ist das Potenzial vorhanden, wie Philipp Must sagt: „Durch die vielen Tische in Kneipen und Schulen haben die Leute zwar ein falsches Bild vom Kickern als lustiges Freizeitspiel. Aber immerhin kennt fast jeder den Sport und hat ihn auch selbst schon mal ausprobiert.“ Der Weg über Jugendzentren und Schulen ist daher auch eine der Strategien des DTFB bei der Bekanntmachung von Tischfußball als Sport.

Eine andere ist die angestrebte Aufnahme in den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), den Dachverband des deutschen Sports, der mit über 27 Millionen Mitgliedschaften die größte Sportorganisation der Welt ist. 55 so genannte Spitzenverbände, das sind die Bundesverbände der einzelnen Sportarten, sind hier vertreten. Neben etablierten Größen wie den Fußballern und Leichtathleten gibt es auch abseitigere Abteilungen, etwa den Deutschen Minigolfsport Verband oder den Deutschen Rasenkraftsport- und Tauzieh-Verband.

Strenge Aufnahmebedingungen

Um hier dazu zu gehören, bedarf es gewisser Voraussetzungen: 10.000 Mitglieder müsste der DTFB haben und Mitglied in acht Landessportbünden sein. Bisher sind im DTFB erst 7.500 Kickersportler organisiert, rund 6.000 davon stammen aus dem Saarland, dem Kernland des deutschen Tischfußballsports, in dem der lokale Kickerverein in manchen Orten mehr Mitglieder hat als der Fußballclub. Landesverbände sind derzeit nur in Westdeutschland denkbar, die ehemalige DDR inklusive Berlin ist weitestgehend Niemandsland im organisierten Tischfußball.

Dennoch: Die Erfüllung der Formalien ist machbar. Und auch DOSB-Justiziar Herrmann Latz gibt dem DTFB Grund zur Hoffnung: „Wenn sich Tischfußball ausreichend organisiert, würde einer Aufnahme nichts im Weg stehen.“ Anders als bei aussichtslosen Dauerkandidaten wie Skat, Paintball und Modellfliegen ist beim Kickern zudem der Sportcharakter gegeben, wie Latz sagt.

Den sieht auch Tim Ludwig: „Eine gewisse körperliche Fitness ist wegen der permanenten Konzentration absolut notwendig. Eine Partie auf Spitzenniveau kann bis zu einer Stunde dauern. Danach ist man komplett durchgeschwitzt.“ Manche Spieler betreiben zudem Muskeltraining für die Unterarme.

Auch international hat sich die Kickerszene in den vergangenen Jahren organisiert. Ein wichtiger Schritt war hierbei 2002 die Gründung des Weltverbandes ITSF, der die WM organisiert hat und sich derzeit noch um ein anderes bedeutendes Problem kümmert: die Vielfalt der Tischmodelle. In der rund 100-jährigen Geschichte des Kickerns haben sich international diverse Tischarten etabliert, bei denen Torbreite, Dicke der Spielerfüße, Stangen, Oberfläche, Banden und vieles mehr variieren. Zudem gibt es selbst für Laien deutlich spürbare Unterschiede zwischen den Bällen, von harten glatten Plastikkugeln aus Österreich und Norddeutschland bis zur griffigen Korkvariante, die in Belgien bevorzugt wird. Mittlerweile erfüllen nur noch fünf Tischmodelle die Kriterien des ITSF.

Kein Fernsehen, kein Geld

Die Professionalisierung soll auch Sponsoren locken. Denn selbst bei den größeren Turnieren bekommt der Sieger bisher bloß 1.500 Euro, wovon aber noch Anreise und Unterkunft finanziert werden müssen. Nur absolute Spitzenspieler können es sich leisten, neben dem Kickern nicht mehr arbeiten zu müssen: So gibt es in den USA etwa zehn Profitischfußballer, dazu kommt der Belgier Frederic Collignon, derzeit der beste Spieler der Welt.

Der Mangel an Sponsoren ist aber auch durch das geringe Medieninteresse bedingt. In den Printmedien wird zwar inzwischen häufiger über Tischfußball berichtet, das Fernsehen – und das ist entscheidend – hat den Sport aber noch nicht entdeckt.

Angesichts dessen, dass Kickern zu großen Teilen aus immer den gleichen Bewegungsmustern besteht, scheint das auch nicht weiter verwunderlich. Doch Tim Ludwig sieht durchaus Potenzial: „Das Wichtigste wäre, dass die Emotionen eingefangen werden“, sagt er. „Denn das ist das Faszinierende am Kickern: Es gibt, abgesehen von Kampfsportarten, keinen Sport, wo man dauerhaft so dicht seinem Gegner dran ist.“ Blickkontakte und kurze Wortgefechte zwischen den Ballwechseln können ein Spiel entscheiden, dafür muss man extrem nervenstark sein: „Die Psychoschiene ist unglaublich, das Spiel wird bis zu achtzig Prozent im Kopf entschieden. Gleich gut spielen können die Spieler auf einem bestimmten Level sowieso.“

„Derzeit sind im Sportfernsehen Pokern und Snooker der Hype – und das ist größtenteils medial gemacht“, sagt Ludwig. „Warum sollte nicht Kickern das nächste große Ding sein?“

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