Frisch gebackene Versprechen
In San Francisco wurden einst die Glückskekse erfunden. Zu Besuch in der Golden Gate Fortune Cookie Factory, die noch so produziert wie vor 50 Jahren. (veröffentlicht in Das Magazin, Ausgabe November 2016)Der Glückskeks ist eine Scheibe. Das würde man bei einem flüchtigen Blick nicht vermuten, sieht er doch eher aus, als hätte Frank Gehry beim Pacman-Spielen die Idee für ein neues Museum gehabt. Doch in seiner Ausgangsform ist der Glückskeks nichts anderes als ein winziger Crêpe, rund, dünn und flexibel. Nicht lange – drei, maximal vier Sekunden hat ein Glückskeksbäcker Zeit, um die weichen Teigscheiben zu greifen, den kleinen Papierstreifen mit dem weisen Spruch schon in der Hand. Die Seiten der Scheibe muss man hochnehmen und sie dann über Immer und immer wieder passiert das in der Golden Gate Fortune Cookie Factory, und in den Händen der Arbeiterinnen in verschmelzen die Arbeitsschritte zu einer einzigen Bewegung. Griff. Keks. Griff. Keks. Griff. Keks. Die Glückskeksfabrik befindet sich in San Franciscos Chinatown, wobei man sich vom Wort “Fabrik” nicht in die Irre führen lassen sollte. Es handelt sich um einen kleinen Laden in einer Seitengasse, ein tageslichtarmer, schlauchartiger Raum, kaum breiter als hoch, vielleicht fünfzehn Meter tief. Vorne werden die Kekse verkauft, an der linken Wand ist das Büro, hinten stapeln sich Kartons, wird der Teig gemacht, und den Rest des Raums nehmen drei Öfen ein, so groß wie Konzertflügel, vollgestellt mit chinesischen Porzellanfiguren und Vasen. Das Business war einst in japanischer HandAngefangen hat all das nicht weit von hier, in San Francisco, vor etwas mehr als 100 Jahren. So geht jedenfalls die Geschichte, von der es unterschiedliche Variationen gibt. Von wem und wo genau in Kalifornien der Glückskeks in seiner heutigen Daseinsform erfunden wurde, ist unklar, doch es gilt als einigermaßen gesichert, dass das Glückskeksbusiness zunächst vor allem eines von japanischstämmigen Amerikanern war. Da außerdem viele Japaner chinesische Restaurants betrieben, fand der Glückskeks dort seine Heimat und hat sie bis heute: als Gimmick, das mit der Rechnung kommt, das schnell geöffnet und, wenn überhaupt, hastig und lustlos verspeist wird. Als im Zweiten Weltkrieg fast die gesamte japanischstämmige Bevölkerung der US-Westküstenstaaten in Internierungslager gesteckt wurde, übernahm die chinesische Community das Glückskeksgeschäft. Am 5. August 1962 eröffneten dann Nancy Tom – die bis heute an der Maschine sitzt – und ihr Bruder, beide erst in den 50er Jahren aus China in die USA gekommen, die Golden Gate Fortune Cookie Factory. Ihre drei großen Öfen waren damals das Neueste vom Neuen, und so belieferten sie chinesische Restaurants. Bis in die 90er Jahre blieb das ein gutes Geschäft, doch dann wurde die Konkurrenz der Fabriken, die komplett vollautomatisch Kekse herstellen können, zum Problem. Die Aufträge wurden weniger. Die Schließung drohte. Gerettet wurde die Golden Gate Fortune Cookie Factory von Kevin Chan, dem Sohn von Nancy Tom. Der heute 47-Jährige ist quasi in der Fabrik aufgewachsen, schon mit neun Jahren hat er bei der Produktion mitgeholfen. Er kann die Kekse ohne Handschuhe falten, und das soll was heißen, denn die kleinen Teigscheiben sind grausam heiß. Entschleunigung als WettbewerbsvorteilDer Rettungsplan von Kevin Chan war, als würde er einen Glückskeks falten: mit wenigen Handgriffen, von außen betrachtet spielerisch leicht, aus einer Scheibe etwas ganz anderes machen. Er öffnete die Fabrik im laufenden Betrieb für die Öffentlichkeit, machte die Produktionsstätte zum Industriemuseum. “Glückskeks-Manufaktur” würden Marketing-Experten das inzwischen wohl taufen, und es ist eine Touristenattraktion, die perfekt in die heutige Zeit passt, wo wir die Entschleunigung verehren, wo wir auf Reisen immer auf der Suche nach dem Originalen und Originellen sind. Auch deswegen kommen Touristen in Scharen in San Franciscos Chinatown, mit 100.000 Einwohnern die größte der USA: weil hier alles so unverstellt erscheint und doch exotisch. Nicht mehr als ein Dutzend von ihnen passen in den winzigen Verkaufsbereich der Fortune Cookie Factory, sie dürfen schauen, Fotos machen (dafür 50 Cent, bitte, danke) und natürlich auch ihre eigenen Sprüche auf die kleinen Zettelchen schreiben, diese dann abgeben und bei der Produktion zuschauen. Der eigene Glückskeks für einen Dollar, customized und handgefertigt. So lässt es sich neben den Großfabriken der Glückskekswelt existieren: Allein der Marktführer Wonton Food Inc. mit Hauptsitz in Brooklyn stellt rund 4,5 Millionen Kekse her. Täglich. Und die Golden Gate Fortune Cookie Factory? Zehntausend, an guten Tagen auch fünfzehntausend, sagt Kevin Chan. Das hänge von der Stimmung der Frauen an den Maschinen ab. Und vom launischen Wetter hier in San Francisco. Ist es draußen zu kalt, trocknet drinnen der Teig schneller, dann wird es knifflig. Überhaupt ist der Aussatz von ungefalteten Glückskeksscheiben hoch, rund 40 Prozent landen in einem Eimer. Sie werden an die Besucher verschenkt oder als nackte Keksscheiben verkauft. “… in bed”Außerdem im Portfolio: Riesenglückskekse, schokoladenüberzogene Glückskekse und, noch so ein Beispiel für Spezialisierung in einem zugestellten Marktumfeld, die “Adult X-Rated Cookies”: Statt Lebensweisheiten stehen versaute Witze auf den kleinen Zetteln. Wobei es in San Francisco ohnehin Sitte ist, an den Glückskeksspruch noch ein “… in bed” anzuhängen. “Your lucky number for this week is seven … in bed.” “Opportunity knocks on your door every day – answer it … in bed.” Das funktioniert auch auf Deutsch. Einfach mal ausprobieren. Die Spruchzettelchen stellt Kevin Chan selber her, Stapel von Papierbögen zum Kleinschneiden liegen zum Schneiden bereit. Auf der Rückseite in Rot die aktuellen Glückszahlen, die in den USA zum Glückskeksstandardinventar gehören und vorne diese so sinnerfüllten wie sinnfreien Sprüche, Wegwerf-Weisheiten irgendwo zwischen Konfuzius und dem Horoskop-Abreißkalender, deren Beliebigkeit einst in einer Simpsons-Folge auf den Punkt gebracht wurde: Homer geht gemeinsam mit einer attraktiven Arbeitskollegin essen, die ihm eindeutige Avancen macht, und ist von Gewissenskonflikten geplagt. “Sie werden Ihr Glück in einer neuen Liebe finden”, sagt ihm der Keks, und er sieht es als Zeichen. Schnitt auf das Hinterzimmer des Restaurants, in dem zwei große Fässer und zwei chinesische Kellner stehen. “Hey, wir haben keine neuen Lieben mehr.” – “Dann mach das Fass mit ›Bleib bei deiner Frau’ auf.” Dass der Inhalt für die meisten Menschen der einzige Daseinszweck des Glückskekses ist, gefällt Kevin Chan nicht, und er erzählt, was er über deutsche Glückskekse weiß. “Sie sind nicht gut, viel zu hart.” Die Deutschen kümmerten sich nicht um den Keks. “Sie schmeißen ihn einfach weg. Für uns zählt alles: die Glückszahlen, der Spruch, der Keks”, sagt er, und natürlich seien die nach dem streng geheimen Rezept seiner Mutter gebackenen Golden Gate Fortune Cookies auch die leckersten. Eins ist klar: In der Golden Gate Fortune Cookie Factory ist das Medium genauso wichtig wie die Message. |