Unser täglich Gras gib uns heute

Gott will, dass wir nur allerbestes Marihuana verkaufen. Mit diesem Motto sind die heiligen Schwestern von Merced in den Unternehmerhimmel aufgestiegen. (erschienen in Dummy Nr. 51 “Geschwister”, Sommer 2016)

Am vierten Tag des Mondzyklus ist die Pistole von Sister Kate plötzlich weg. Sie muss gestohlen worden sein, schon vor einigen Wochen, aber es war bisher niemandem aufgefallen. Die Waffe ist registriert, der Sheriff wird informiert. Er kommt sofort.

Und da steht er nun mit Glatze, Sonnenbrille und schusssicherer Weste in diesem herrlich verwilderten Garten irgendwo im kalifornischen Frühling und redet mit Sister Kate, einer kleinen Frau in einem fliederfarben-weißen Nonnenhabit. Ein kleiner pudeliger Hund wuselt zwischen ihren Beinen umher, es riecht nach Lehmboden, Vögel zwitschern, und zwischen Pappeln und Palmen wachsen in Kuhlen auf dem Rasen zwölf kleine Hanfpflanzen.

Im Raum hinter der Verandatür sitzt Sister Darcy, ebenfalls wie eine Nonne gekleidet, am Computer. Daneben machen zwei Frauen Medizin versandfertig, kleben Etikett um Etikett auf die Gläser mit der Heilsalbe, die zum größten Teil aus Kokosöl und Cannabis besteht, das große Glas für 95 Dollar.

Sister Kate ist die Äbtissin und Sister Darcy die Priorin der „Sisters of the Valley“. Sie sind Feministinnen und Bernie-Sanders-Anhängerinnen, sie folgen den sechs Gelöbnissen und leben gemeinsam in ihrer Abtei, einem eingeschossigen Haus auf einem kleinen Anwesen im kalifornischen Central Valley. Katholisch sind sie nicht. Ihre Botschaft senden sie mit dem Paketservice in alle Welt: Salben und Tinkturen aus Cannabisextrakten. 60.000 Dollar haben sie damit 2015 umgesetzt, im ersten Quartal 2016 war es bereits genauso viel, weil die Geschichte mit den grasanbauenden Nonnen so gut in den Medien funktioniert.

Männer dürfen nur zugucken

Begonnen hatten sie den Mondzyklus wie immer mit einer Zeremonie: Frauen aus der Nachbarschaft waren in der Neumondnacht zu ihnen gekommen, es wurde gebetet, gesungen, gelesen, den Göttinnen gedankt, anschließend gab es ein veganes Buffet. Männer durften auch dabei sein, aber nur zugucken. Auch an der Medizinherstellung, die nur bis zum Vollmond erlaubt ist, sind ausschließlich Frauen beteiligt. So sehen es die Traditionen vor.

Vor zehn Jahren war Sister Kate noch die Unternehmensberaterin Christine Meeusen. Sie lebte mit Mann und Kindern in Amsterdam, stand politisch eher den Republikanern nahe und leitete ihre eigene kleine Agentur. Ihr Spezialgebiet: Deregulierungsprozesse, damals etwa auf dem Telekommunikationsmarkt. Es lief gut, bis sie dahinterkam, dass ihr Mann hinter ihrem Rücken den gesparten Wohlstand in einem Geflecht von Bankkonten versteckt hatte.

Pleite und geschieden kehrt Christine Meeusen 2007 zurück in die USA. Nicht nach Wisconsin, wo sie 1959 geboren wurde, sondern nach Merced, zu ihrem Bruder. Merced liegt im Central Valley, dank Bewässerungsanlagen und 250 Sonnentagen im Jahr ist es der Obstgarten der Nation, hier wachsen Mandeln und Pfirsiche, Wein und auch Hanf.

1996 war Kalifornien der erste US-Bundesstaat, der den Einsatz von Cannabis für medizinische Zwecke legalisierte, bei einer Volksabstimmung entschieden sich 56 Prozent der Kalifornier für die Freigabe unter Auflagen. Inzwischen haben 23 Bundesstaaten nachgezogen, wobei Colorado, Oregon und Washington sogar noch weiter gehen und auch die nichtmedizinische Nutzung teilweise entkriminalisiert haben.

Der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig der USA

Hier entsteht gerade eine Riesenindustrie, es ist der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig der USA. 2,7 Milliarden Dollar wurden 2015 umgesetzt – allein in Kalifornien. Bis 2020 soll sich der Umsatz verdoppeln. Prominente wie Snoop Dogg interessieren sich für den Markt genau wie Selfmade-Millionäre aus dem Silicon Valley.

Das kapiert Christine Meeusen schon 2008: „Ich hab zwar von Landwirtschaft keine Ahnung und kann nicht einmal eine Hauspflanze am Leben erhalten“, sagt sie rückblickend. „Aber mit deregulierten Märkten kenne ich mich aus. Und diesen konnte ich eine Meile gegen den Wind riechen.“ Gemeinsam mit ihrem Bruder steigt sie damals in den therapeutischen Hanfanbau ein, zunächst für gemeinnützige Zwecke.

Und dann kommt Occupy. Meeusen, die sich seit ihrer Rückkehr politisch deutlich nach links bewegt hat, steigt voll ein in die Bewegung der 99 Prozent. Als im Herbst 2011 die Meldung die Runde macht, der republikanisch dominierte Senat habe Pizza als Gemüse definiert, um die Ernährungsstatistik an Schulen zu verbessern, sagt sie: „Wenn Pizza ein Gemüse ist, dann kann ich auch eine Nonne sein.“

Auf Demonstrationen erscheint sie ab sofort in einem Nonnenkostüm. Schnell wird sie als Sister Occupy bekannt. Andere Frauen fragen sie, ob sie Teil ihres Ordens werden können. Native Americans laden sie zu einer Zeremonie auf einem heiligen Berg ein. Jedes Mal weist sie darauf hin, dass sie nicht katholisch sei, doch jedes Mal ist das den Leuten egal. Eine Idee wächst in Sister Kate, wie sie sich inzwischen nennt. Schon seit einiger Zeit hat sie mit der Herstellung von Salben und Tinkturen experimentiert, denn sie will nicht länger Menschen das Rauchen beibringen, die mit Parkinson im Bett liegen. Sie will auch nicht länger nur die Kranken und Sterbenden im Valley versorgen – sondern exportieren und Geld in diese strukturschwache Region bringen.

„Hilf mir, das wie einen guten Film aufzuziehen“

Also entwickelt sie ihre Salben zu einer Produktlinie. Und sie besucht John Patti, einen befreundeten Dokumentarfilmer aus Los Angeles, und bittet ihn: „Hilf mir, das wie einen guten Film aufzuziehen.“ Gemeinsam schaffen sie die Sisters of the Valley, klären „die grundlegenden Herausforderungen, um althergebrachtes Wissen und Brauchtum in ein modernes New-Age-Business zu übertragen“. Sie sorgen für eine Corporate Identity, für Kontinuität, für eine plausible Geschichte ohne innere Widersprüche. Sie beantworten Fragen, etwa: Dürfen verheiratete Frauen aufgenommen werden? Wenn nur Frauen die Medizin herstellen und nur Männer das Gras anbauen dürfen, wie geht man dann mit Transmenschen um? Auch der Mondzyklus ist auf diese Weise entstanden sowie die sechs Gelöbnisse der Sisters, zu denen Aktivismus, Umweltbewusstsein und auch Keuschheit zählen.

John ist immer noch dabei, als Brother John ist er der Brand Image Protector und Berater der Sisters of the Valley. Dazu hat Sister Kate weitere Mitstreiter um sich geschart. Wie Sister Darcy, ihre Priorin, die Nummer zwei im Schwesternorden. Oder Zane, der als eine Art Projektmanager in einem Wohnwagen neben dem Anwesen der Sisters lebt.

Darcy ist erst 25. Bevor sie im Herbst 2015 zu den Sisters kam, jobbte sie in einem Burgerladen und baute privat Hanf an. Davor hatte sie ein Jahr in Neuseeland verbracht und Erfahrungen in der Landarbeit gesammelt.

Sie ist der ruhige Gegenpart zu Sister Kate. „Wäre ich katholisch, wäre ich wohl eine Nonne“ sagt sie. „Weil ich ein wenig zu ordentlich und erwachsen bin. Und weil ich schon immer die Idee mochte, mit anderen Frauen zusammenzuleben. Wie aufregend! Das hier ist all das, was ich immer machen wollte: gemeinsam für Gleichberechtigung und gegen die Stigmatisierung von Cannabis kämpfen.“

In der Abtei kümmert sich Sister Darcy um den Versand und die Rohmaterialbestellungen, hat die Aufsicht über den Pflanzenanbau, die Medizinproduktion und den Kundenservice. Aktuell denkt sie über die Anschaffung einer Schüttelmaschine für die Tinkturherstellung nach, denn per Hand ist das nicht mehr zu leisten. Ein Ultraschallreinigungsgerät wäre eine Alternative, ein kleines Modell hat Darcy probehalber schon mal angeschafft.

Ein kiffender Truckfahrer

Brother Zane hingegen regelt von der Security über die Abwicklung mit Handwerkern bis hin zum YouTube-Kanal alles, was logistisch anfällt. Er ist Anfang 40, ein Slacker aus Hawaii, der beim Interview erst mal von Noah Chomskys Linguistiktheorie erzählt. Kennengelernt hat er Sister Kate über Occupy. Damals war er Gebäudemanager, später arbeitete er ein paar Jahre als Lkw-Fahrer, bis er eine Pause machen musste, weil er in Colorado gekifft hatte. Was legal ist, aber für einen Truckfahrer eben nicht die beste Idee.

Zane hatte Sister Kate auch das Schießen beigebracht, mit der Waffe, die nun gestohlen wurde. Dabei sei sie doch eigentlich strikt gegen Waffen, sagt Kate. Überlebenswichtig war die Pistole dennoch im vergangenen Herbst: Kate und Zane bewachten ein Grundstück, auf dem ihr Hanf angebaut wurde, damals gab es die Abtei noch nicht. Um fünf Uhr morgens kamen die Räuber, zwölfmal schossen sie auf das Wohnmobil. Zane schoss zurück. Die Angreifer suchten das Weite, verletzt wurde niemand. Anschließend wurde sofort geerntet, wenn auch viel zu früh. 200.000 Dollar hätten die Pflanzen bringen können, so waren es nur 60.000. Doch wenn Räuber einmal wissen, wo das Gras ist, kommen sie wieder.

„Das ist der Wilde Westen hier“, sagt Sister Kate, sie erzählt von Kartellen und wilde Geschichten, die sich kaum überprüfen lassen: dass Gangs aus Los Angeles als Initiationsritus Leute zum Drive-by-Shooting herschicken, dass Banditen im Herbst aus den Bergen kommen, um nach Grasfeldern zu riechen. Dass die Polizeieinheiten sich nicht so recht um das Problem kümmern, denn dann würden sie die Sondermittel für die Kartellbekämpfung verlieren.

Warum gehen die Sisters of the Valley nicht einfach in eine friedlichere Gegend, zum Beispiel ins nordkalifornische Mendocino, oder gleich nach Oregon? „Weil Nonnen nicht dahin gehen, wo es gemütlich ist. Und die Leute hier brauchen uns.“ Viele Hispanics lebten in diesem Teil des Central Valley, die meisten hätten keine Ersparnisse, keinen Urlaub, keine Krankenversicherung, nicht mal ein Bankkonto, sagt Sister Kate. „Wir könnten an Orte gehen, wo es uns besser geht – aber dann hätten wir nicht das Recht, unseren Habit zu tragen.“

Man will das alles glauben

„Nuns wouldn’t go where it’s comfortable.“ Das ist diese Sorte Powersatz, von der Sister Kate alle Viertelstunde einen raushaut. Wie „It’s the wild, wild west.“ Oder: „We might have shorter lives, but they are more interesting.“ Sister Kate redet wie ein Wasserfall, und sie redet ziemlich gut: klar, anekdotenreich, mit einer vom Leben angerauten Stimme und natürlicher Autorität. Man will ihr das alles glauben, diese ganze verrückte Geschichte von den Hanfnonnen. Ein wenig verpeilt und zugleich absolut zupackend erscheint sie dabei, mitfühlend und dann plötzlich eiskalt, etwa wenn sie von einer älteren „Bewerberin“ für ihren Schwesternorden erzählt, die sie nicht aufgenommen hat. „Was soll ich mit alten Frauen? Ich will eine Zukunft für Schwestern.“

Ist sie eine freundliche alte Anarchistin mit einer Vision für eine bessere Welt? Oder eine sehr clevere Geschäftsfrau mit einer verdammt guten Marketingstrategie? Oder, und das funktioniert so wohl nur in den USA, einfach beides auf einmal?

Auf jeden Fall haben die Sisters jetzt erst mal ein Nachschubproblem: In der Abtei wird das Gras knapp, es gibt bei weitem nicht genug für die nächste Salbenproduktion. Überhaupt reichen den Sisters die eigenen Pflanzen schon lange nicht mehr, sie importieren Öl und Pflanzen aus Mendocino, aus Colorado, Italien und sogar Deutschland. Nicht mehr als zwölf Cannabispflanzen pro Grundstück – und die auch nur für den Eigenbedarf – sind in Merced County erlaubt.

Bleibt noch die Sache mit der Pistole.

„Es war die einzige, die wir hatten“, sagt Sister Kate. „Jetzt muss ich eine neue für 700 Dollar kaufen.“

„Nein, nein, warte, wir kriegen eine Flinte für 20 Dollar“, sagt Zane. „Außerdem streut die viel weiter. Man muss nur grob in die richtige Richtung zielen.“

„Und wir müssen nicht erneut durch den Lizenzierungsprozess. Wir hatten damals keine Flinte gekauft, weil wir noch im Wohnwagen gelebt haben. Aber mit unserem eigenen Anwesen macht das vermutlich mehr Sinn.“

„Uuuund: der Klick-klick-Faktor. Jeder kennt das und findet es einschüchternd.“

„Also ist es einfacher und geht schneller. Vielleicht fahre ich nachher einfach los und kaufe eine Shotgun.“

„Lass uns gleich zwei kaufen.“