Das Free-Jazz-Gebet

In San Francisco verehrt eine Kirche den Jazz-Saxofonisten John Coltrane als Heiligen. Doch in einer Stadt der steigenden Mieten ist kein Platz mehr für sie.
(gemeinsam mit Felix Denk, erschienen auf fluter.de)

Besonders heilig sieht der Neubau in der Fillmore Street nicht aus, im Erdgeschoss würde man eher eine Arztpraxis oder eine Anwaltskanzlei vermuten. Klappstühle stehen in Reihen, die Decke ist unverkleidet, Lamellenrollos verhindern, dass Passanten von der Straße reinglotzen. Es ist Sonntag. Gleich geht’s hier los mit einem Gottesdienst.

Von der Decke hängen Siebdruck-Fahnen in Batikoptik. Die Wände schmücken raumhohe ikonenhafte Darstellungen von Maria und Jesus mit schwarzer Hautfarbe und goldenem Heiligenschein, zentral ist aber das Bildnis von John Coltrane, der wie ein König in weißem Gewand auf einem Thron sitzt, das Saxofon in der linken, eine Schriftrolle in der rechten Hand, auch er mit Heiligenschein.

John Coltrane (1926–1967) war ein Jazz-Saxofonist. Hier ist er ein Heiliger. Für Europäer mag das komisch klingen. Tatsächlich ist die Kirche in San Francisco aber kein obskurer Fanclub, sondern eine ordentliche christliche Glaubensgemeinschaft. Sie existiert seit 1971 und ist seit 1982 Teil der African Orthodox Church. Dass sie John Coltrane, insbesondere sein berühmtes Album „A Love Supreme“, verehrt, hat damit zu tun, dass dieses als Loblied auf Gott gedacht war. Außerdem ist der Kirchengründer Franzo W. King glühender Jazzfan. Ja, mehr noch: Als er Coltrane erstmals spielen hörte, empfand er es als Klangtaufe. Und so ist der Free Jazz ein zentrales Element des Gottesdienstes.

Doch bis der losgeht, dauert es erst mal. Für zwölf Uhr ist die Messe angesetzt, und langsam füllt sich der Raum. Zwei kleine Mädchen verkaufen Lotterielose. Es sind etwa 40 Leute anwesend, darunter auch einige Touristen. Als Marlee-I Mystic, eine der Töchter von Franzo W. King, den Gottesdienst gegen halb eins eröffnet, erklärt sie zur Sicherheit, was uns erwartet: „Manche Leute fragen: ‚Wann beginnt die Performance?‘, aber so läuft das hier nicht“, sagt sie und ruft alle zum Mitmachen auf: „Participate! Singt – und wenn ihr das nicht wollt, dann klatscht, trampelt mit den Füßen oder ruft ‚Halleluja‘.“ Verzichten solle man dafür bitte auf Filmaufnahmen.

Treibende, langsame, meditative Rhythmen

Anschließend werden ein paar Tamburine verteilt und, nun ja: die Performance beginnt. Die ersten anderthalb Stunden gehören fast allein der achtköpfigen Band. Marlee-I Mystic übernimmt den Gesangspart, sie trägt die religiösen Parts vor, gesungen und spoken-word-artig. Jedes der Stücke wird über mindestens zehn Minuten gespielt, mit treibenden, langsamen, trommeligen, meditativen Rhythmen, immer wieder unterbrochen von Saxofon- und Klarinettensoli.

Der Free Jazz, der hier gespielt wird, steht gleich in mehrfacher Hinsicht für eine Befreiung. Einerseits religiös. Die afroamerikanische Musik fand schon immer Inspiration in der Spiritualität – und in der Kirche. Die Spirituals, der Gospel sind Urformen, auf die sich Generationen schwarzer Musiker immer wieder bezogen haben. Soulstars wie Al Green oder Solomon Burke waren Pastoren. Selbst aktive House- und Techno-DJs wie Terrence Parker, Chez Damier und Robert Hood predigen, wenn sie nicht gerade in Clubs auflegen.

Andererseits hatte der Free Jazz auch politische Obertöne. Viele Musiker der 1960er-Jahre verstanden die neue Musik als universellen Befreiungsakt – aus dem Korsett von Takt und Harmonie, aber auch aus ihrer gesellschaftlichen Situation. Coltrane und viele andere waren Teil der Civil Rights Movement rund um Martin Luther King Jr., die sich für das Ende der Rassentrennung aussprach. In Zeiten der #blacklivesmatter-Bewegung ist dieses Erbe so aktuell wie lange nicht mehr.

Im Gottesdienst in der Fillmore Street haben die Musiker sich und die Gemeinde inzwischen warmgespielt. Die Stimmung ist nicht wie in so einem „Sister Act“-Klischee-Gospelgottesdienst, wo alle zusammen in die Hände klatschen. Die Musik und Gottes Botschaft werden hier eher allein, meditativ rezipiert: Einige wippen ein wenig mit, manche steigen immer weiter in den Rhythmus ein, andere rühren sich gar nicht, wieder andere, wie ein junger Weißer mit Jackett und Hemd, gehen voll aus sich heraus.

Die Besucher repräsentieren ein vergangenes San Francisco

Immer weiter füllt sich die Kirche, bis fast alle Plätze besetzt sind, jetzt sind über 60 Menschen da, einige müssen stehen. Vorne tanzt eine schlanke ältere Frau, die aussieht, als wäre sie als Hippie vor 40 Jahren in die Stadt gekommen und einfach geblieben. Es ist Megan Haungs, Minister of Tap Percussion Dance, eine Art Priesterin des Klangs. Auch ein kleines blondes Kind läuft vorne herum, ein wenig fühlt sich das alles an wie in einem grün-alternativen Kinderladen in den 80ern, und ein wenig ist die Stimmung auch aus der Zeit gefallen: Die Leute, die in der Kirche zusammenkommen, repräsentieren ein vergangenes San Francisco.

Eines, das gerade von den Zehntausenden jungen, konsumfreudigen und kapitalismusgläubigen Menschen aus aller Welt verdrängt wird, die in die Stadt kommen und im Silicon Valley arbeiten. Die bei Facebook, Google und Co. oder gepusht von Venture-Kapital so viel Geld verdienen, dass sie auch 5.000 Dollar Monatsmiete zahlen können und immer noch genug Geld haben für den Yogakurs und den Wochenendausflug ins Spa nach Lake Tahoe.

Wenn viele neue Menschen kommen, werden oft andere verdrängt. Geschichten von „Evictions“, Räumungen, kann fast jeder alteingesessene Mieter in der Stadt erzählen. Das betrifft auch das Quartier rund um die Fillmore Street. Früher war die Gegend mal als das „Harlem des Westens“ bekannt, bewohnt von vielen Arbeitern, die während der „Great Migration“ aus den Südstaaten in die Stadt gekommen waren. Davon ist heute nicht mehr viel übrig: Seit 1970 hat sich die schwarze Einwohnerschaft von San Francisco halbiert, von den verbleibenden Bewohnern wurden viele in Stadtviertel am Rand gedrängt. Durch die Mietenexplosion in den vergangenen zehn Jahren ist der Druck noch gestiegen.Auch die St. John Coltrane Church ist davon betroffen. Dieser Gottesdienst im April ist vorerst einer der letzten vor der „Eviction“. Seit Anfang Mai hat die Kirche keine festen Gemeinderäume mehr. Auch sie konnte die Miete nicht mehr zahlen.

Der Redeteil des Gottesdienstes beginnt. Auch das läuft hier anders als etwa in Europa. Nicht nur der Priester spricht, sondern mehrere Personen aus dem Inner Circle der Kirche. Sie erzählen, beten, und auch die Leute im Publikum rufen mal was dazwischen, eine Anmerkung und einfach „Yeah“ oder natürlich „Amen“ und „Halleluja“. Auch ein kleines Kind ruft einmal „Halleluja“, und alle klatschen selig. Die eigentliche Predigt hält Archpriest Rev. Wanika King Stephens, die vorher noch am Bass stand, eine weitere Tochter des Kirchengründers. Sie spricht mit einer warmen, schwingenden Stimme. Das Thema der Predigt: Selbstdisziplin.

„Das ist hier kein Trauergottesdienst”

Ein wenig Selbstdisziplin erfordert inzwischen auch der Gottesdienst, der mehr als drei Stunden andauert. Zum Schluss kommen die „Announcements“ dran, eine Art offenes Mikrofon für alle Anwesenden. Auch His Eminence The Most Reverend Archbishop F. W. King D.D., der Gründer der Kirche, erhebt nun sein Wort: Er erzählt von einer jüngst verstorbenen Schwester, Bonnie Lee, die er schon ewig kennt. Auch andere sagen etwas über sie, und einige Familienangehörige sind da, es wird kurz ergreifend, aber dann sagt King: „Das ist hier kein Trauergottesdienst. Wir sind eine fröhliche Kirche!“

Am Ende geben sich alle die Hände – die Dreadlock-Träger, die Touristen, die beiden älteren schwarzen Damen, die in vornehmen Sonntagskleidern gekommen sind. Die Menschen in der Fillmore Street sind zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden. Der Schlagzeuger meldet sich zu Wort und sagt: „Eine Sache dürft ihr nicht vergessen: Die Coltrane-Kirche ist eine geistige Verbindung. Wir hören nicht auf. Auch nicht, wenn wir in zwei Wochen hier rausmüssen.“

Nach ein paar Wochen Pause finden die Gottesdienste nun einstweilen in der Turk Street statt, ein paar Blocks weiter östlich. Doch auch diese Lösung ist nur temporär.