So nahe an der Erde wie fast nie
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN mit Hippieorchestern, Gürtelverkäufern, Superhelden nach Feierabend und zwei echten Wahrsagerinnen. (aus der taz vom 8. Mai 2012)Bohemian Rhapsody!, ruft jemand. Klar, das ist jetzt dran, das kollektive Mammamiamammamialetmego!-Singen zum Abschluss der re:publica. Aber nix is, beim Wechsel von der Kalkscheune ans Gleisdreieck hat man gleich ein paar Traditionen entsorgt (ist trotzdem viel toller die neue Location, wirklich!). Also tritt das Orchestre Miniature in the Park auf, ein Hippietraum mit Kinderinstrumenten und bunten Hosen, und danach gehen alle in den Vorhof und trinken Bier. Auch wenn das viele schon die drei Tage gemacht haben. Viele Stunden später wird doch noch Bohemian Rhapsody gesungen, die Leute lesen den Text von ihren Smartphones ab. Man kann sich das auf YouTube anschauen. Ich bin da längst woanders, als Mitbringsel auf einer Friseur-und-Dinner-Abendgesellschaft. Aus dem Haareschön-Raum kommen ständig neue Frauen. Die wenigen Männer sitzen still im Wohnzimmer, ihre gesamte Kommunikationsenergie ist auf Richard vereint. Dieser Richard („Wie Löwenherz, haha“) hat außerdem einen Koffer dabei und darin sind Gürtel, aus Leder, mit Holzschnallen. Sie kosten 80 Euro. Für einen Gürtel. Das sind 160 Mark! Dann doch lieber auf den Balkon, es ist ja auch schön warm noch. Man kann über die ganze Karl-Marx-Straße gucken. Von oben sehen wir, wie ein Superheld von der Arbeit kommt, in einem gelb-roten Kostüm. Er verstaut seinen Schild im Kofferraum und fährt mit seinem Kleinwagen nach Hause. Am nächsten Tag ist Herbst. Einfach so. Weint der Himmel um MCA? Will er eine angemessene Kulisse für den Abstieg von Hertha BSC schaffen? Oder sind das die Eisheiligen? Es ist jedenfalls legitimes Fußballguckwetter, und dann passiert etwas Seltsames, ich realisiere das auch erst, als ein Tor fällt: Auf einmal bin ich für Hertha. Echt jetzt. Muss am Vollmond liegen, der gerade so nah an der Erde vorbeikommt wie fast nie. Oder an meinen netten Tischnachbarn. Als das 2:0 fällt, fragt mich ein kleiner älterer Herr: „Sind Sie auch Hertha-Fan?“ Er sieht so glücklich aus. Na ja, sage ich. Heute wohl schon. Abends dann zum Kickern ins Neuköllner Hauptquartier der Emoqueerlinken, also ins Tristeza. Und schon stellen sich existenzielle Fragen: War es das wert, für einen Sieg gegen das Team, das seit anderthalb Stunden den Tisch blockiert, die Geisterbahn zu verpassen? Denn die gibt es heute, und nur heute, genau wie Minigolf, Tombola und eine Clownin. Beziehungsweise gab, ich bin mal wieder zu spät. Nur die Wahrsagerinnen sind noch da. Mir wird ein Hut mit Gespenstermuster aufgesetzt und wir machen eine Gruppensitzung, R. und ich und Hexe Nummer A und Hexe Hataya, es geht um die Frage, was der Sommer bringt. Wir entscheiden uns für die Heilige-Geist-Methode und also gegen die Karten, die Puppen und die Kugel. Es werden Blumen gewedelt, Augen geschlossen und Kristalle geworfen. Sie ergeben keine klaren Linien, keine Struktur. Die Prinzessin liegt auf dem Bauch. Es ist alles ein großes Chaos! Doch dann schält sich eine Erkenntnis aus dem Dunkel: Dune, das beliebte Happy-Hardcore-Projekt aus den Neunzigern, wird in diesem Sommer sein Comeback feiern! Das nenne ich mal erfrischend konkrete Wahrsagerei. Mir werden dann noch die Karten gelegt. Als Basis habe ich einen Narren mit Guy-Fawkes-Maske, als Charakter eine Art Krieger mit einem großen Schild und als Ausrichtungskarte eine blaue Elfenfrau mit Billy-Idol-Frisur. Was bedeutet: Alles ist offen, doch ich überblicke den Sommer. Und habe es in der Hand, meine Haare zu ändern. |