Drei Straßen weiter
BERLINER SZENE über die Begegnung mit einer alten Frau (aus der taz vom 20. April 2012)Vor dem Kiosk steht auf einmal ein Obststand. Wie nett. Obwohl. Gehört der zu den Dreharbeiten, die gerade in unserer Straße laufen? Seid ihr echt oder vom Film, frage ich. Vom Film. Na gut. Eigentlich wollte ich auch nur zum Bäcker, aber vorm Edeka spricht mich eine Frau an. Im Rollstuhl, mit weißem Haar, ich habe sie schon mal gesehen. Ja? Ich bin etwas genervt, weil ich denke, sie will Kleingeld. Doch sie fragt, ob ich sie ein Stück schieben kann. Na gut, ich habe nichts zu tun. Also bringe ich sie bis zu ihrer Wohnung, drei Straßen. Sie könne mir kein Geld geben, sagt sie. Ich würde auch keins nehmen, sage ich. Sie sei auf einer Kreuzung vom Fahrrad gefallen und habe vor Schreck einen Schlaganfall bekommen. Danach lag sie ein Jahr im Krankenhaus. Ihre Tochter wohnt zum Glück gleich um die Ecke. Und Sie sind auch gebürtiger Berliner?, fragt sie. Ich sage, dass ich aus Oldenburg komme. Ob wir immer noch die 2900 hätten? Früher war sie Finanzbuchhalterin, da kennt man die untergegangenen Postleitzahlen der BRD. Nein, wir haben jetzt was mit 26 und die Nullen haben sie uns weggenommen. Sie grüßt mehrere Leute. Ein Mann sagt: Schneller. Der hat sie auch mal geschoben, aber als sie ihn bat, langsamer zu sein, hat er sie stehen lassen. Ein anderer war so eifrig, dass er an einer Bordsteinkante zu schnell war und sie aus dem Rollstuhl gepurzelt ist. An ihrem Haus hat irgendwer ihren Namen in Holzbuchstaben über die Tür gehängt. Wir fahren mit dem Fahrstuhl hoch. Ich schiebe sie in die Wohnung, an den Tisch, auf dem Zeitungen liegen. Hat sie keine Angst, dass ich sie jetzt ausraube? Sie hat sogar einen Balkon, aber da kann sie nicht drauf, weil der Türrahmen zu hoch ist. Als ich gehe, entschuldigt sie sich. Auf dem Rückweg kaufe ich Balkonblumen. Das hatte ich schon so lange vor, aber war vorher nie an dem Laden vorbeigekommen. |